Dienstag, 23. Mai 2023

Vom Lastenrad kopfüber ins Unglück

Die Westfälischen Nachrichten haben mal wieder was über Lastenräder gebracht. Es wurde mir gestern Abend schon von einem Menschen, der scheinbar die digitale Ausgabe hat, durchgesteckt. Bei meiner Suche konnte ich den Artikel nicht finden, wohl aber einen kurzen Bericht eines Volontärs, der sich ein Riese + Müller load ausgeliehen hatte, um daran Fern- und Bremslicht am Fahrrad zu probieren, und sich bereits im ersten Absatz komplett blamiert, als er die Maße des Rades mit "fast zwei Meter" für die Länge und "deutlich breiter als ein normales Fahrrad" für die Breite angibt. Falls das einem Lesenden nicht klar sein sollte: egal, welche Variante, das load ist IMMER Länger als zwei Meter und NIEMALS breiter als ein normaler Fahrradlenker. Profis am Werk.

Am nächsten Morgen dann aber las ich den Artikel, auf den ich verwiesen worden war, und mir bleibt nichts anderes übrig, als den hanebüchenen Schwachsinn, den Helmut P. Etzkorn hier verfasst hat, einmal abzuarbeiten. Legen wir los.

Der Artikel beginnt damit, dass beschrieben wird, wie Kursat Dalboy eine Vollbremsung mit einem Lastenrad macht. Der Dummy "P6" sei dabei auf den Asphalt geschleudert worden, und das in hohem Bogen. Auf dem Foto sehen wir zwar Pflastersteine, aber hey, wen interessieren schon solche Details, wenn Asphalt einfach griffiger klingt.

"In hohem Bogen" nach HP Actionkorn.

"Bei einem realen Geschehen hätte der Sechjährige sich mehrfach die Knochen gebrochen, auch die Halswirbelsäule hätte was mitgekriegt." sagt "DEKRA-Chef" Ludger Bolke. Ist er eigentlich der Chef der DEKRA? Oder vielleicht doch Niederlassungsleiter? Schon wieder diese Details. Helmut P. Etzkorn ist ein sehr junger, unerfahrener Journalist, da darf mensch das nicht so eng sehen.

Aber auch inhaltlich ist seine Behauptung natürlich schon sehr steil. Sehr, sehr steil. Angefangen damit, dass ein Kind Körperspannung und Muskeln hat, ein Dummy jedoch nicht. Aber gehen wir einfach mal davon aus, das Kind fiele wirklich aus dem Lastenrad, gebremst wird bei 25 20 Stundenkilometern *. Das Kind saß dabei auf einer Sitzbank etwa 50cm über dem Aspha... äh.. Pflaster. In etwa auf der gleichen Höhe, als wenn es selbst Fahrrad gefahren oder einfach nur gelaufen wäre.

Die kinetische Energie, die der Körper des Kindes hat, ist nicht zum Boden hin gerichtet.

Glaubt irgendwer hier ernsthaft, ein Kind würde sich bei einem Sturz alle Knochen, ja das Genick gar, brechen? Klar, Murphy. Wir wissen, passieren kann alles. Aber der Herr Bolke übertreibt hier doch ziemlich maßlos.

"Weil die Bremsen von Lastenrädern deutlich straffer und schneller als bei normalen Rädern greifen, seien schwere Unfälle [..] nahezu programmiert", behauptet er weiter.

Diese Behauptung ordnet Nachwuchsjournalist Etzkorn sogleich kompetent und mit nachrecherchiertem Fachwissen ein. Äh, ... nein. Muss er wohl vergessen haben. Also mache ich das hier für ihn. Zunächst mal: an jedem Fahrrad kann jede Bremse montiert werden. Nur, weil es ein Lastenrad ist, hat es noch lange keine besonders straffen Bremsen. Zwar finden wir an hochwertigen Lastenrädern tatsächlich oft auch Scheibenbremsen, bisweilen sogar sehr gute, die dann wirklich straff Bremsen, aber die gibt es natürlich für jedes andere Fahrrad auch, und die WN macht den Test mit einem Bakfiets Lastenrad des lokalen Verleihers Tretty. Das Shimano Rollerbrakes hat. Vorne und hinten. FUCKING ROLLERBRAKES. Das sind wohl die schwächsten Bremsen, die ein Fahrrad haben kann, und eines der Merkmale dieser Bremsen ist, dass sie (wenn gepflegt) NICHT VOLLSTÄNDIG BLOCKIEREN können.

Ich bin selbst lange Gazelle Cabby und Urban Arrow mit Rollerbrakes gefahren, ich sehe durchaus Vorteile bei diesem Typ Bremse, insbesondere die Wartungsfreiheit, aber Notbremsungen, damit? Ich muss fast den Verdacht äußern, das Foto zum Artikel könnte gestellt sein und der Dummy wurde durch die Luft geworfen? Ich wüsste nicht, wie eine derartige Bremswirkung mit Rollenbremsen zu erzielen sein sollte.

Als nächstes darf der Geschäftsführer der Verkehrswacht Christoph Becker ungeprüften Unsinn verbreiten: "Leider ist kaum ein Kind angeschnallt und die wenigsten tragen Helme". Hey Christoph: schickst du deine empirischen Daten dazu bitte einmal an "leckensiesichfett@keineahnung.lol"? Auch zur Anschlussbehauptung "Wie bei Pedelecs gehe die Unfallquote mit Lastenrädern signifikant hoch. Auch, weil vielen Fahrern Routine fehle."

Ja, sorry, Lastenradbubble. Ihr seid einfach alle nur zu scheiße, um die Räder sicher zu fahren. Ihr wusstet das bis gerade nicht, aber Helmut hat es ja zum Glück für euch aufgeschrieben.

Becker: "Das Fahrverhalten eines Lastenrades ist völlig anders als bei einem normalen Drahtesel."

Nein. Ist es nicht. Für Sie 14 Jahre lang im Dauertest. Gute Güte.

Im weiteren Verlauf des Artikels nennt er das Bremsverhalten von Lastenrädern dann "gut", war es nicht eingangs noch das Problem? Ich bin zunehmend verwirrt.

"Immer mehr Lastenräder sind elektrisch angetrieben, deshalb müssen Babys immer in speziellen Schalen sitzen." sagt Bolke dem Artikel nach. Ich hatte bislang gedacht, Babys müssten in speziellen Schalen sitzen, weil sie Babys sind und noch nicht auf Stühlen oder Bänken sitzen können. Aber was weiß ich schon, ich habe nur vier Kinder. Und elektrisch angetrieben sind übrigens nur (Klein)Kraftfahrzeuge, Pedelecs sind elektrisch unterstützt. Aber wieder so eine Kleinigkeit, die nur einem Anfänger wie Etzkorn in den Artikel durchrutschen kann.

Dann phantasiert der Artikel noch etwas herum, welche Voraussetzungen gegeben sein müssten, um Kinder zu transportieren. Die Straßenverkehrsordnung sagt hier: "Kinder bis zum vollendeten siebten Lebensjahr dürfen auf Fahrrädern von mindestens 16 Jahre alten Personen mitgenommen werden, wenn für die Kinder besondere Sitze vorhanden sind und durch Radverkleidungen oder gleich wirksame Vorrichtungen dafür gesorgt ist, dass die Füße der Kinder nicht in die Speichen geraten können." Zu Lastenrädern folgt noch, dass diese "zur Personenbeförderung gebaut und eingerichtet" sein müssen.

Eventuell ging in der WN Redaktion gerade das Internet nicht und Helmut P. konnte das nicht nachsehen, daher fehlt auch hier jegliche Einordnung. Hunde dürften dem Artikel nach "nur in entsprechendem Geschirr" mitfahren, auch das ist natürlich komplett falsch, für Hunde schreibt die Straßenverkehrsordnung beim Transport im Lastenrad eine Ritterrüstung vor.

Zum Glück gibt es ab Sommer Fahrsicherheitstrainings für Lastenradfahrer. Hallelujah. Da lernt mensch unter anderen, wie man nicht seitlich von einem Mercedes mit 50 Stundenkilometern gerammt wird. Kommt alle, es lohnt sich. Helmut ist bestimmt auch da.

*) Nachtrag: durch einen Bericht des WDR über denselben Test habe ich erfahren, dass mit 20km/h gebremst wurde. Also mit vermutlich/etwa dieser Geschwindigkeit, denn im Beitrag ist am Testrad keinerlei Tacho zu erkennen.